Demnächst: Umzug nach Timbuktu

Sie finden Dein Leben in Argentinien ziemlich exotisch

wurde mir neulich über Verwandte aus Zürich und seiner Agglo berichtet.


Wow, auf “exotisch” wäre ich nie gekommen. Nichts sehe ich, fühle ich, erlebe ich hier als exotisch.

Ich bin nach wie vor von Europäern umgeben, freilich vor allem von solchen, die sich auf eine lockerere Lebensform eingelassen haben. Die hier leben, weil sie mit einem recht grossmaschig gehäkelten Regelkorsett und nur wenigen verpflichtenden Normen auskommen und nicht der Illusion erliegen mit einer geschickt kombinierten Policenauswahl liessen sich die Unwägbarkeiten des Schicksals kompensieren.
Und die Gegend hier, Patagonien, ist höchstens in der wörtlichen Übersetzung – und dann trivialerweise – exotisch: fremdländisch nämlich.
Das haben die Zürcher sicher nicht gemeint.



Die Steigerung von exotisch kam schon ein paar Wochen später während eines kurzen chats mit einem anderen Freund: “..wir leben hier viel irdischer als Du!” las ich da. Wenn ich das richtig verstehe dann wollte er sagen, dass ich weniger irdisch lebe, also irgendwie “un-irdisch”, oder vielleicht sogar leicht ausser-irdisch.


Auf was habe ich mich da bloss eingelassen? Warum hat mir das niemand vorher gesagt?
Als ich mich vor zehn Jahren zur ersten Expedition des Mountain Wave Project nach Argentinien, nach Patagonien, ja genau nach dem San Martin de los Andes auf machte, wo ich jetzt lebe, fand das niemand exotisch, geschweige denn weniger irdisch.

Am Ort kann es also nicht liegen wenn meine Freunde mein Leben so anders ein- oder besser aus-ordnen. Das war mir natürlich klar.

Was sie wohl meinten brachte ein Bekannter aus Florida auf den Punkt: “Wolf, was sagen eigentlich Deine Freunde zu dem Leben, das Du führst? Mir scheint es echt interessant und spannend!”
Als ich ihm exotic und non-terrestrial (zu extra-terrestrial habe ich mich doch nicht verleiten lassen!) als Antwort anbot, kam sowas wie ein verhaltenes Lachen aus dem headset. “I didn’t think it would be that bad” meinte er dann und schob nach: “This does not only tell me something about your friends but about you, as well, I’m afraid”. Tim ist Engländer und sowas wie ein Lebensberater, da muss man hin und wieder mit leicht verbogenen Bemerkungen rechnen.
Immerhin hatte er mir einen Gegenpol gegeben zu exotisch und weniger irdisch: interessant und spannend.

Wie relativ doch alles ist! Und um Tim’s Worte zu gebrauchen: das sagt mir einiges über die Autoren dieser Kommentare. Und sie scheinen mir da plötzlich völlig verständlich, ja sogar logisch.
Aus Sicht der Freunde und Verwandten, die in solides Berufs- und Familienleben nach Schweizer Muster verstrickt sind, hat mein Leben etwas, das so garnicht ins Endemische, Heimische passt.
Für Tim dagegen, der vor 5 Jahren seinen gut bezahlten Sales-Job in England hingeschmissen hat und in Florida ein eigenes Business aufbaut, bin ich ja fast jemand aus der Clique, in der Begriffe wie Lust auf Neues, Offenheit und Abenteuer zu wichtigen Kategorien eines intensiv gelebten Lebens gehören.

Jetzt warte ich auf die Frage, wie ich selbst denn mein Leben sehe.

Das kommt darauf an!
Manchmal noch ein bisschen ala exotisch, immer öfter aber ala spannend, interessant. Offen, herausfordernd, “packend” füge ich da noch hinzu.
Ich spüre, wie sich meine Perspektive langsam aber bestimmt ändert. Die hiesigen Verhältnisse fordern diese Änderung nicht, sie fördern sie vielmehr.
Ich werde auch kein anderer durch diesen Sichtwechsel, ich werde mehr der, der ich bin.
Ein Filter, durch den ich mich sehe, verschwindet langsam, die Brillengläser verlieren etwas von ihrer Farbe.
“Die Landkarte ist nicht das Gebiet” hat ein Semantiker mal festgestellt. Als Metapher heisst das hier: das Gebiet, nämlich das Ich, ist nach wie vor dasselbe, die Landkarte ist allerdings etwas genauer geworden.

Auf der geografischen Landkarte liegt Timbuktu viel näher bei der Schweiz als San Martin. Auf dem Globus auch. Ist ein Leben dort deswegen auch näher an dem in der Schweiz?

Ich kann mir ohne grosse Anstrengung ausmalen wie Tim’s Kommentar ausfällt, wenn ich nächstens bekenne, dass ich meinen Umzug nach Timbuktu plane (just kidding..).
Aber was die Schweizer dazu sagen würden, wenn ich wieder “in die Nähe” käme?

Keine Ahnung, mit “exotisch” und “ausser”-irdisch haben sie ihr Pulver ja schon weitgehend verschossen.

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