Argentina ist überall

Ob es an der Inflation liegt? Oder am dünnen Papier?
Oder an den löchrigen Hosentaschen?

Es fehlen einfach überall die monedas – Moneten. Damit sind hier nicht nur die kleinen, dünnen Hilfstaler gemeint, für die man fast nichts mehr kaufen kann, sondern auch die ausgefransten Scheine mit einem Wert von 20 Pesos und darunter. Besonders der Zweier, der kleinste Lappen, fehlt eigentlich immer.
An vielen Kassen klebt deswegen ein Fetzen Papier auf dem steht: No hay monedas! Was soviel bedeutet wie: Kein Wechselgeld, Kaufen auf eigene Gefahr! Wenn Du das Kleingeld nicht passend hast kostet’s entweder mehr oder Du kriegst anstelle Kleingeklimper in weicher Währung eine handvoll harte caramelos (Bonbons) heraus.

money machine

Im “cole” (-ctivo), dem öffentlichen Bus, funktioniert das natürlich nicht. El chofer (der Chauffeur – die französischen Einwanderer lassen grüssen) hat keine caramelos und wenn seine Fahrgäste keine monedas mitbringen hat er auch davon keine. Dass er komplett blank ist kommt allerdings selten vor. Irgendwelche Pesitos und Centavos kugeln immer irgendwo rum. Die richtigen zu finden ist die Kunst. Kommt jemand, sagen wir mit einem Fünfer, dann fängt das Suchen nach dem Dos Pesos meist in einem Bündel von Scheinen an, das mit einem Gummibändel zusammen gehalten wird und links im Lüftungsgrill unter der Scheibe klemmt.
Und weil das dauern kann, fährt Capitan Facundo schon mal los.

Danach geht’s in das Bastkörbchen, ausgeschlagen mit einem Rest Wachstuch, neben dem Schaltstock. Dort tummeln sich die 5er, 10er, 25er, 50er Knöpfe und die silbrig umrandete Ein-Peso Münze. Mit wirbelnden Fingern versucht der conductor die richtigen herauszusortieren, schiebt mit der Fertigkeit eines Taschenspielers die Chips hin und her unterbricht seine Suche nur wenn er mal kurz schalten muss. Wenn auch das ohne passenden Fund blieb fingert er nach seiner privaten Geldbörse. Um dazu an seine Gesäßtasche zu kommen muss er sich leicht aus dem Sitz stemmen. Dass er das schafft ohne dass der Uralt-Mercedes auch nur eine Sekunde aus Takt oder Richtung kommt, beweist sein Talent im Multitasking: Das Herumstöbern nach Wechselgeld ist Subroutine, im Hauptprogramm manövriert er ja den klapprigen Bus. In einer Staubwolke mit Sicht nahe Null fädelt er ihn in den ungezähmten Verkehr auf der Ruta 234 ein. Kurz danach bremst er aus voller Fahrt wieder herunter und dirigiert den Veteran durch Fußgänger, Schulkinder, Radfahrer und Gauchos hoch zu Ross über das holprige Bankett zielsicher zum nächsten Haltestellen-Hüttchen. Alle diese Kunststückchen für den Preis eines “Langstrecken-Tickets” von 50 Schweizer Räppchen, das bekommt man sonst nirgendwo geboten.

bus stop


Sicher nicht in Colorado, wo ich den öffentlichen (RTD) Bus immer benutze, wenn ich vom Denver International Airport hinaus nach Boulder fahre. Die Strassen sind alle top, der Verkehr wohlgeordnet, Pferde im Gegenverkehr unbekannt und Probleme mit der Sicht gibt’s höchstens, wenn ein Blizzard genau dann loslegt, wenn ich schon gelandet aber noch nicht “zuhause” bin.

Es ist eben alles typisch “Primer Mundo” – Erste Welt: bestens organisiert im Vertrauen auf das perfekte Zusammenspiel von erstklassiger Infrastruktur und zuverlässiger Technik. Virtuoses Improvisieren wie es Facundo und seine Kollegen so gut beherrschen ist nicht gefragt.
Kleine Unregelmäßigkeiten führen da schon mal zu unerwarteten Komplikationen.
Wie bei meinem letzten Besuch.
Da war ich mit schwerem Gepäck unterwegs und hatte deshalb Fahrplan und -preis vorab recherchiert. Mit Rucksack am Rücken, Stativsack über der Schulter und Kameratasche und Koffer in den Händen wollte ich mir last minute trouble ersparen.
Der freundliche alte Herr am Schalter von Welcome to Colorado zeigte mir den Weg zur platform 6a, von wo mein Bus in 10 Minuten abfahren sollte. 18 Dollar einfach, bestätigte er und ja, ich kann beim Fahrer zahlen. Pünktlich rollt RTD 816 an. “Boulder Turnpike, Louisville, Broomfield, Boulder last”, damit will der driver Ordnung in die Gepäckver – und später -entladung bekommen. Wir reihen uns ein, zuerst draußen mit unseren Koffern, dann beim Einstieg mit unseren Dollars. Ich bin der letzte und reiche ihm meine 20er Note, die ich mir vorher in die Tasche gesteckt hatte. Ohne aufzusehen deutet er auf die kleine Maschine neben sich. Ich entfalte den Schein, schiebe ihn in den Schlitz, die Maschine zieht ihn rein, stößt ihn wieder aus. Ich probiere noch mal, diesmal Zahl nach oben: gleiches Resultat. Mister driver blickt auf: ” Sorry, nur genauer Fahrpreis in Fünf-Dollar Noten oder kleiner! “. Habe ich nicht, ob er mir wechseln kann? Nein, erstens kann er nicht und wenn er könnte dürfte er nicht.
Was machen wir jetzt? Ich habe eine Idee: ” Kann ich beim Aussteigen zahlen? Ein Freund holt mich ab und hat es sicher passend?”
“Geht nicht! Wenn ein Kontrolleur kommt und Sie ohne Ticket erwischt zahlen Sie den Fahrpreis und 50 Dollar extra!” Typisch Dienst nach Vorschrift. Aber dann bietet er doch noch eine Art Kompromiss an: ” Sie können mitfahren, aber auf eigenes Risiko!” Dieses Risiko gehe ich ein – andere Optionen sehe ich gerade nicht, nach 40 Stunden Reisezeit bröckelt meine spontane Kreativität gerade etwas ab.
Unsere Verhandlung hatte die Abfahrt leicht verzögert – kein Multitasking hier – und die Passagiere in den vorderen Sitzen aufmerksam gemacht. Eine Frau spricht mich an als ich mich auf einen der freien Plätze fallen lasse: “Fragen Sie doch mal rum, vielleicht kann Ihnen jemand wechseln!” ” Ja, kommen Sie mal her, ich habe eine Menge Kleingeld!” meldet sich der, der zwei Reihen hinter ihr am Fenster sitzt. Er zieht ein Lederetui raus, in dem ein dickes Bündel Noten klemmt. Wir zählen die Kleinen und kommen genau auf 18 Dollar, zwei Fünfer und acht Einer. “Okay, zwei Dollar Wechselgebühr, kein Problem!”, grinse ich ihn an als wir die Scheine tauschen. Ich lege die Grünen sauber aufeinander und füttere die Maschine einmal mehr. Sie frisst den obersten Fünfer halb, den zweiten knabbert sie an, dann hat sie sich verschluckt und wimmert nur noch vor sich hin. Wieder rausziehen geht auch nicht, das Wimmern wird nur lauter. Das hört auch der Fahrer und blickt irritiert herüber. “Oh Mann, erst können Sie nicht bezahlen und dann machen Sie mir auch noch den Apparat kaputt! Und jetzt?”
Er klopft an die Box, haut oben drauf und schaut mich verärgert an. Sie wimmert weiter.
Ich habe im Moment genug von der Primer Mundo, in der alles immer perfekt funktioniert.
” I’m sorry” bringe ich noch raus, dann schleiche ich zu meinem Sitz.
Und denke an Facundo und seine Wechselgeld-Probleme.
Argentinien ist überall, scheint mir.
Nur kommen damit nicht alle gleich gut zurecht.

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